Die Probleme, mit denen Betroffene konfrontiert sind, die sich einer oft über viele Jahre erlittenen sexualisierten Ausbeutung entziehen wollen, ergeben sich nicht nur aus schwierigen äußeren Bedingungen (kaum ausreichend Schutz und Hilfen, medizinische Versorgung, juristische Unterstützung, gesellschaftliche Anerkennung), sondern ganz zentral auch aus den inneren Folgen der Gewalt bzw. Manipulation.
"Gewalt braucht man nicht sehr oft anzuwenden; sie muss nur überzeugend sein, wenn sie angewendet wird."
Judith Lewis Herman, MD, „Truth and Repair: How Trauma Survivors Envision Justice”, Basic Books, New York 2023, S. 28 (Übersetzung von uns)
So wird in der Wissenschaft im Bereich der Traumafolgestörungen schon seit einiger Zeit das Konzept von sogenannter traumaerzwungener Bindung (Trauma-coerced Attachment - TCA) diskutiert, welches einige Gründe für die innere Zerrissenheit von Betroffenen beleuchtet.
In dem hier zitierten Fachartikel des Journal of Human Trafficking von 2022 wird TCA als Täterstrategie bei sexualisierter Ausbeutung näher beschrieben:
"Einen besonders heimtückischer Aspekt des Menschenhandels zum Zweck sexualisierter Ausbeutung bildet der Druck, den Täter*innen ausüben, um ihre Opfer zu beeinflussen, zu kontrollieren und zu viktimisieren (Baldwin et al., Citation 2015; Withers, Citation 2016). Menschenhändler*innen nehmen zum Zwecke der Ausbeutung oft die vulnerabelsten Personengruppen ins Visier, insbesondere obdachlose und entlaufene Jugendliche, Überlebende von früherem Missbrauch und Traumata sowie Menschen mit Sucht- und psychischen Erkrankungen (Choi, Citation 2015; Lo & Chambers, Citation 2016; Polaris Project, Citation 2019a). Dabei wenden sie diverse Zwangstaktiken an, wie z.B. die Förderung von Drogenkonsum oder die Manipulation der Verwundbarkeit ihrer Opfer, um Kontrolle über sie zu erlangen. Mitunter verwenden sie Aspekte der positiven Verstärkung wie Liebesversprechen, Sicherheit oder Geschenke im Austausch für die Einhaltung von Regeln – andererseits aber auch negativen Zwang wie die Bedrohung mit Gewalt, Verlassenheit bzw. Ärger mit Einwanderungs- und Strafverfolgungsbehörden, um ihre Opfer in die Unterwerfung zu zwingen (Counter-Trafficking Data Collaborative, Citation n.d. ; Polaris-Projekt, Zitat 2019a).
Oft wird eine Kombination aus positiven und negativen Nötigungstaktiken eingesetzt, um Opfer zu manipulieren, zu destabilisieren und zu entwurzeln. Diese missbräuchlichen Techniken, die von Täter*innen im Bereich des Menschenhandels verwendet werden, können zu einem bestimmten Aspekt von Trauma führen, welcher als traumaerzwungene Bindung (Trauma Coerced Attachment - TCA) oder Traumabindung (Trauma Bonding) bezeichnet wird.
Traumabindung wurde zuerst von Patrick Carnes definiert als "Missbrauch von Angst, Aufregung, sexuellen Gefühlen und sexueller Physiologie, um eine andere Person zu verstricken", mit wiederkehrenden Zyklen der intermittierenden Verstärkung von Belohnung und Bestrafung, die eine emotionale Bindung zwischen Opfer und missbrauchender Person schaffen, welche schwer zu brechen ist (wie in Rosenberg, Citation 2019, S. 2 erklärt). Darüber hinaus beschreiben Doychak und Rhagavan TCA als "eine starke emotionale Abhängigkeit vom missbrauchenden Partner und eine Verschiebung der Welt- und Selbstanschauung, die zu Gefühlen der Dankbarkeit oder Loyalität gegenüber der missbrauchenden Person und der Verleugnung oder Minimierung von Zwang und Missbrauch führen kann" (S. 339). TCA kann dazu führen, dass der/die Überlebende die Verantwortung für die Verbrechen der Tatperson übernimmt und sie sogar vor rechtlichen oder sozialen Konsequenzen schützt. Diese Art von Bindung kann auch nach dem Ende der Beziehung zwischen überlebender und missbrauchender Person anhalten und zu einem Verhalten führen, das für andere, einschließlich Hilfepersonen im Gesundheitssystem, schwer vorherzusagen und zu verstehen ist. Angesichts dessen wird TCA relativ selten diagnostiziert; es existiert jedoch. TCA wurde in vielen Machtungleichgewichts- und Missbrauchssituationen identifiziert, die psychologische Gefangenschaft beinhalten, einschließlich häuslicher Gewalt und solcher in Kulten, und Symptome von TCA und PTBS werden unter anderen dissoziativen Störungen beschrieben (Wang, Citation 2018). Im ICD-11 umfasst Komplexes Trauma Komponenten von TCA. Überlebende mit einer durch Trauma erzwungenen Bindung kehren eher zu denen, die sie gefangen halten/hielten, bzw. zum Lebensstil der sexualisierten Ausbeutung zurück. Daher ist die Bewältigung der zugrunde liegenden psychologischen Reaktionen, die sowohl zu TCA führen als auch daraus resultieren, für den Heilungsweg von Überlebenden unerlässlich."
Quelle: Chambers, R., Gibson, M., Chaffin, S., Takagi, T., Nguyen, N., & Mears-Clark, T. (2022). Trauma-coerced Attachment and Complex PTSD: Informed Care for Survivors of Human Trafficking. Journal of Human Trafficking, 10(1), 41–50. https://doi.org/10.1080/23322705.2021.2012386
(Zitat s.o. S. 43; Übersetzung und Hervorhebungen von uns)
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Dieser Umstand macht natürlich auch die Strafverfolgung von Täter*innen und damit den juristischen Schutz der Betroffenen bzw. deren gesellschaftliche Anerkennung schwer.
Die kanadische Regierung fasst das Problem auf ihrer offiziellen Webseite so:
"TCA zwingt das Opfer, sich einer fortgesetzten Ausbeutung zu unterwerfen und den/die Täter*in zu schützen, obwohl es alle Gründe hat, das Gegenteil zu tun (Casassa et al., 2021). Auch kehren Opfer, die TCA erleben, kehren eher zu Täter*innen bzw. in die Umgebung der kommerziellen sexuellen Ausbeutung zurück (Chambers et al., 2022), was es den Strafverfolgungsbehörden erschwert, ihnen beim Ausstieg zu helfen oder einen Fall vor Gericht zu bringen. Medizinische Fortschritte bei bildgebenden Verfahren des Gehirns, dem Verständnis neurobiologischer Reaktionen auf Stress und laufende Fortschritte in der Psychologie bieten Einblicke, warum sich Opfer manchmal so verhalten und ihre Situation so wahrnehmen."
Quelle: https://www.justice.gc.ca/eng/rp-pr/jr/tiprhtc-rptctctp/p4.html
(Übersetzung und Hervorhebung von uns)
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