Die Eisfestung
Tränen werden geweint.
Kleine, schillernde Perlen kullern die Wangen entlang
und fallen nieder.
Der Blick ist verschwommen und alles weniger hart
und ein bisschen zarter.
Tränen durften nicht geweint werden.
Harte, spitze Eiskristalle aus erfrorenen Emotionen haben
sich angesammelt.
Denn erfrorene Emotionen tun noch nicht weh und machen
es erst ein bisschen leichter.
Doch was, wenn in der eisigen Festung kleine Wesen
festsitzen?
Kleine Wesen, die in ihrer eigenen Festung zu ersticken
drohen?
Weil irgendwann die Luft ausgeht und nichts schöner
wäre als wieder zu atmen.
Dann müssen die Eisriesen schmelzen.
Mit der riesigen Wärme aus Mut, Hoffnung und Wut
helfen wir gerne.
Und langsam werden die Wände dünner und das
Eis klarer.
Jetzt sieht man schon schemenhaft, was sich hinter der
Wand verbirgt, und auch eine kleine Kinderhand.
Und auch wenn wir müde sind, lassen wir die Wärme
nochmal aufglühen und schmelzen die Eiswand.
Eine kalte, kleine Hand greift verhalten nach meiner, und
wir müssen jetzt auch keine Worte sprechen.
Vorsichtig nehme ich das kleine Kind an die Hand, und
wir gehen fort.
Fort von diesem grausigen Ort und der Angst und
der Kälte.
Sobald wir ganz in Sicherheit sind, fällt das Kind in
einen tiefen Schlaf.
Ich verweile noch eine kurze Zeit und mache mich dann
auf den Weg zurück zum Tag.
Und wieder tropfen kleine, schillernde Perlen herab und
benetzen die Augen.
Weil wir wieder ein bisschen Tauwetter haben und auch
wenn es jetzt schmerzt, danach wird es klarer.
Wir sind nicht mehr da.
Ihr könnt alles mit uns machen, es macht uns nichts aus.
Es tut auch gar nicht weh, nicht mal ein bisschen.
Es ist einfach alles taub und leblos.
Sämtliche Führung über den Körper ist verschwunden,
selbst wenn wir uns anstrengen, bewegt sich nicht mal die Hand.
Fast eine friedliche Weise, wie wir da liegen,
schon mehr tot als lebendig.
Wir blicken von oben auf das Körpergeschehen, es tut uns
nicht leid.
Niemand leidet.
Wir müssen das jetzt machen, nur sterben dürfen wir nicht.
Jahre später laufen wir wie eine Marionette durch die Straßen.
Blicken oft nur von oben auf das Geschehen um uns.
Da oben ist es ein bisschen weniger laut,
ein bisschen weniger belebt und auch ein bisschen einsam.
Jetzt sind wir oft einsam, aber nie alleine.
Haben uns gegenseitig ein bisschen kennengelernt und teilen
den Alltag auf.
Dafür ist es nie mehr friedlich und leise.
Im Innen schreit es, wir sind gehetzt und haben Angst
wegzukippen.
Gedanken zum Weggehen, Loslassen und Ankommen
Pflanzen wachsen und gedeihen dort am besten, wo sie
Wasser aus dem Boden und genug Licht von oben
bekommen.
Vielleicht ist das bei uns Menschen genauso.
Aber würde eine Pflanze, die ihr ganzes Dasein lang nur
verschmutztes Wasser und getrübtes Licht bekommen hat,
trotzdem wachsen?
Wohl ja, sie passt sich den gegebenen Bedingungen an.
Vielleicht ist das bei uns Menschen genauso.
Und wenn man die Pflanze jetzt entwurzelt und woanders
einsetzt, wo es klares Wasser und reines Licht gibt,
was passiert dann?
Die Pflanze muss sich erst an die neuen Bedingungen
gewöhnen.
Auch wenn das Wasser jetzt klarer und das Licht reiner
ist, bleibt sie an den Wurzeln verletzt.
Erst mit der Zeit kann die Pflanze kleine, neue Wurzeln
bilden, sich wieder aufrichten, klares Wasser tanken
und nach dem reinen Licht ausrichten.
Vielleicht ist das bei uns Menschen genauso.